Vor 1,5 Jahren wurde auf das Haus, auf das ich über drei Hinterhöfe hinweg blicke, auf das vierte Stockwerk noch ein Stockwerk drauf gebaut. Ich hatte damals eine Freundin, die mit ihrer Familie unter dem Dach wohnte und die im Zuge der Baustelle dann weggezogen sind, weil sie den Lärm und die Herabstürzenden Deckenstückchen nicht mehr ausgehalten haben.

Es ist eine alte Angewohnheit von mir, vom Bad oder Schlafzimmer aus, auf deren Haus zu blicken, weil mein Blick als erstes immer nach draußen schweift, wenn ich im Schlafzimmer die Vorhänge zu ziehe oder auf dem Klo sitze. Und dann wurde es dort ja richtig spannend. Ich habe ein Jahr lang fast täglich verfolgt, wie das Haus sich veränderte. Zuerst wurde das Gerüst aufgebaut, dann wurde alles Material auf das Dach befördert, und dann Stein um Stein die zwei neuen Wohnungen drauf gesetzt. Dann kam das neue Dach und dann als letztes die Fenster. Das war tatsächlich spannend. Soviel Veränderung sieht man ja sonst selten, wenn man aus dem Zweiten Stock aus dem Fenster auf ein anderes Haus schaut.

Und eines Tages, ganz plötzlich, hab ich entdeckt, dass dort Jemand in die rechte Wohnung gezogen ist! Das war vielleicht aufregend!

Vor ungefähr einem Monat habe ich abends ein kleines Feuer bei uns im Hof gemacht und neben einem Freund hat sich noch mein Nachbar von oben dazugesellt. Mit dem habe ich mich dann ein wenig über die Wohnungen unterhalten und gesagt, dass ich total neugierig bin und gerne wissen würde, wie diese Wohnung mit dem Balkon von innen aussieht und wer da wohl wohnt (wir hatten schon viel über den Preis der Wohnung spekuliert, und ob das Miet- oder Eigentumswohnungen geworden sind..)

Mein Nachbar meinte daraufhin: „na dann geh doch hin und klingel und frag ob du dir die Wohnung mal anschauen darfst!“ Meine erste Reaktion war, dass ich ihm den Vogel gezeigt habe. Es haben sich sofort alle gut angepassten und konformen Stimmen in mir erhoben und gesagt, dass geht doch nicht! Ich kann doch nicht einfach bei Jemand fremdes klingeln und das fragen! Sowas macht man doch nicht!

Und dann fiel mir mein Schamanenlehrer Agustin ein, der immer wieder von dem sogenannten „nicht -tun“ redet. Das sind Handlungen, die man normalerweise nicht tun würde und auch nicht tut. Also alles, was neu und ungewohnt ist, oder auch einfach alles, was jenseits des Komfortbereiches liegt. Und erst recht Dinge, die nicht Gesellschaftstauglich sind. Und er sagt, dass alles „nicht-tun“, den Montagepunkt (das bedarf jetzt hier zu viel Erklärung…) verschiebt und uns die Welt anders wahrnehmen lässt. Ich finde alle „nicht-tun“ Handlungen setzen enorm viel Energie frei. Zumindest geht es mir jedesmal so.

Und mit der Erinnerung an das Gefühl, dass in mir auslöst wird, wenn ich etwas „verrücktes“ tue, oder eben etwas, von dem die Durchschnittsgesellschaft sagen würde: „das macht man aber nicht!“, habe ich diese Klingel-Idee einige Woche mit mir herumgetragen. Und neben der Angst, etwas so abwegiges zu tun, war da auch eine Lust, es genau deswegen zu tun. Aber die Angst überwog ziemlich eindeutig! Die ersten Wochen war ein ganz klares das-mach-ich(noch)-nicht-Gefühl da. Dann kamen plötzlich in einer Woche ganz andere, viel ernsthaftere Dinge auf mich zu, die mich in Angst und Schrecken versetzt haben. In der ich festgestellt habe, dass es große Ängste in mir geben kann, wenn ich mit gewissen Situationen konfrontiert werde (die allesamt mit meinen Erwartungen an mich in Bezug auf die Situation zu tun haben).

Und in dieser Woche, in der ich schlimme Ängste ausgestanden habe, bin ich auf Klo gegangen und habe da entdeckt, dass in der Wohnung mit Balkon Jemand zu Hause war! Und von irgendwoher kam dann der Impuls: Jetzt geh ich hin! Also habe ich, ohne nachzudenken, eine Flasche guten Bio-Sekt von meinem Regal geschnappt, und bin kurzerhand um den Häuserblock gezogen. Als ich dort ankam war ich vor lauter Aufregung schon ziemlich kurzatmig. Aber ich habe ganz mutig geklingelt. Niemand hat aufgemacht. Also habe ich nochmal geklingelt. Ich hab ja vorhin gesehen, dass Jemand da war. Und dann hat eine Frauenstimme „ja?“ durch die Gegensprechanlage gerufen.

Ich habe dann gesagt „Hallo, hier ist eine Nachbarin von Gegenüber, ich wollt dir was geben und mich kurz vorstellen“. Was anderes fiel mir nicht ein und es entsprach ja auch der Wahrheit (dass ich mir ihre Wohnung angucken wollte, habe ich weggelassen, weil ich das zugegebenermaßen zu dreist gefunden hätte.) Sie hat tatsächlich aufgedrückt und ich bin die fünf Etagen nach oben gelaufen.

Als ich oben ankam, war ich so außer Puste, wohl mehr wegen der Aufregung, als vom Treppensteigen, (aber vielleicht war es auch die Kombi aus beidem), dass ich kaum ein Wort sagen konnte und nach Luft geschnappt habe. Ich hab ihr den Sekt gegeben, und auf ihre Fragen hin, ihr durchs Treppenhausfenster gezeigt, wo ich wohne. Als ich wieder einigermaßen Luft bekommen habe, habe ich ihr dann die Geschichte erzählt, dass ich von Anfang an bei dem Bau ihrer Wohnung zugeschaut habe und dass ich Freunde hatte, die auf der anderen Seite unter ihnen gewohnt haben. Einfach weil ich mich einwenig erklären wollte, warum ich da so plötzlich bei fremden Menschen in einem anderen Haus vor der Tür stehe…

Sie hat dann gefragt, ob ich einen Kaffee möchte, ich war aber mit einem Glas Wasser glücklich und so kam ich dann tatsächlich in diese Wohnung und konnte sie mir zumindest teilweise anschauen und bestaunen. Eine so großzügige Luxuswohnung habe ich selten gesehen! Das an sich war schon ein Erlebnis!

Ich habe dann festgestellt, dass die arme Frau genauso nervös und unbeholfen war, wie ich. Tja, sowas erlebt man ja auch nicht alle Tage. Wenig später kam dann ihr Mann nach Hause und seine Irritation über mein da sein war nicht zu übersehen. Er ist bei meinem Anblick kurz erstarrt, bevor er seinen Weg in die Wohnung fortgesetzt hat. Ich hatte sehr stark den Eindruck, dass die ganze Aktion für die beiden viel befremdlicher und irritierender war, als für mich. Aber sie grüßen mich, wenn ich sie jetzt ab und an auf der Strasse treffe.

Ich jedenfalls war total zufrieden mit meiner Tat und bin erleichtert, glücklich und stolz nach Hause zurück gelaufen. Stolz und glücklich vor allem, dass ich mich getraut habe, die Angst meiner gut situierten Anteile zu überwinden und glücklich, weil sich alles plötzlich so leicht angefühlt hat! Und da gab es auch noch das leise Gefühl von….

…. wenn ich das jetzt so einfach geschafft habe, dann schaffe ich doch ganz andere Dinge……

 

 

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