Wer bin ich, wenn ich mich sicher und geborgen und gut mit mir selbst verbunden fühle? Ich bin mir sicher wir alle wissen, wie sich die Antwort auf diese Frage anfühlt, oder haben zumindest eine Ahnung davon wie sich das anfühlt, was ich hier (be-)schreibe, selbst wenn das schon lange zurück liegt, oder es nur einen einzigen winzigen Moment gab, an dem dieses Gefühl da war. Und ich behaupte, dass die meisten Menschen sich im Alltag immer wieder weit von eben genau diesem Gefühl entfernt fühlen, vor allem ab dem Moment, wo sie nur noch funktionieren.

So ging es mir in den letzten Wochen auch immer wieder. Machen wir uns nichts vor: Das Leben ist und bleibt eine Herausforderung für alle, die nicht erleuchtet sind und der Spezies Mensch angehören – mich also eingeschlossen.

Und ich frage mich WIE bin ich in diesen Strudel geraten, der mich nur noch funktionieren lässt, der mein ganzes Tun und Handeln darauf ausrichtet zu bedienen und zu erledigen und alles dafür zu tun, um im Außen Sicherheit herzustellen? (Denn ich habe rausgefunden, dass es beim „Funktioniermodus“ in Wahrheit um ein Bedürfnis nach Sicherheit geht) Und viel wichtiger ist die Frage: WIE komme ich aus diesem Zustand wieder heraus?

Ich sitze am Küchentisch und frühstücke und merke wie abwesend und getrieben ich bin. Dabei habe ich keinen Termin, der mich drängt. Ich sitze allein am Tisch, mein Kind ist seit gestern bei ihrer Oma und ich habe FREI. Und trotzdem bin ich unaufhaltsam getrieben von dem Gefühl nicht zur Ruhe kommen zu können und der Angst nicht alles zu schaffen.

 Okay, rein objektiv betrachtet sind unglaublich viele Dinge liegen geblieben in den letzten Monaten und der Anblick meines Schreibtischs kann nicht anders als in mir Überwältigung auslösen. Überall liegen To Do Listen und Dinge die erledigt werden wollen, wofür an diesem Schreibtisch momentan gar kein Platz ist, weil er so voll ist. Und ich fliege übermorgen in die Schweiz und bin erstmal für 5 Tage weg. Und eigentlich sollte ich jetzt Ferien haben und Zeit für mich. Aber sonst?

 Ich frage mich erkundend welcher Anteil da gerade innerlich so durchdreht. Es fühlt sich nach einer vierjährigen an. Und sofort kommt mir die Erinnerung in den Sinn, an das einschneidende Erlebnis, das ich mit vier Jahren hatte. Ich weiß diesen Augenblick noch als wäre es heute. Ich lag abends im Bett und habe mit jeder Faser meines Körpers gefühlt, dass es so nicht weiter gehen konnte. Ich habe gefühlt jahrelang jede einzelne Nacht geweint bis ich in den Schlaf gefallen bin. Ich habe geweint aus Schmerz und Verwirrung, aus Zweifel an meinem Wesen. Ich hatte als vierjährige kein Bild von gut und böse, mir fehlte das Verständnis für diese Erwachsene Welt. So oft habe ich abends von meiner Mutter Sätze gehört wie „Du bist so ein schlimmes Kind, wie kannst du mir das antun?“  Und habe nicht verstanden was an mir so schlimm sein soll. In mir manifestierte sich durch die ständige Wiederholung solcher Sätze und der Ablehnung  meiner Mutter ein Gefühl von total falsch sein und dass ihr Leben ohne mich besser wäre, habe ich ohnehin oft genug zu hören bekommen. Wegen diesem tiefen Schmerz um mein falsch-sein habe ich Nacht um Nacht geweint. Ich konnte es nicht verstehen und es schien keinen Weg aus der Situation heraus zu geben. Bis ich irgendwann – eben im Alter von vier Jahren - an einem END-Punkt angekommen war, an dem eine Entscheidung gefällt werden musste. In meinem Leben war nicht genug Platz für meine Mutter UND mich, wir konnten nicht weiter nebeneinander existieren. Und so musste ich wählen: meine Mutter oder ich? Es gab keinen anderen Ausweg, als diese Entscheidung zu treffen um meine Seele zu retten und mein Überleben zu sichern.  Ich habe mich für mich entschieden.

 Ich habe in dieser Nacht einen Teil von mir abgespalten und weggeschickt, um mein Selbst zu schützen, um zu überleben. Um den permanenten emotionalen Missbrauch, die Demütigung, Erniedrigung und Beschämung nicht mehr aushalten zu müssen, die anfing mein Wesen zu vernichten.

Am nächsten morgen war ich überrascht darüber, dass alles was meine Mutter zu mir sagte, mich nicht mehr erreichte. Es drang nicht mehr zu mir durch. Und gleichzeitig war ich zufrieden und stolz auf mich, dass ich es irgendwie geschafft hatte diese unsichtbare Mauer zu bauen. Damit hörten die Angriffe und Gewalterfahrungen nicht auf, aber sie hatten nicht mehr diese immense Wucht, die ungebremst auf meinen Kern trafen und meine Existenz in Frage stellten. Und wenn ich mich recht erinnere, dann hörte ich danach auch auf mich nachts in den Schlaf zu weinen.

Dieser Teil ist also ein sehr junger Teil von mir, der in einem ganz frühen Alter mein eigenes Überleben sichern musste. Auf dessen kleinen Schultern die gesamte Verantwortung für meine Existenz lastet. Da ist es kein Wunder, dass alle ihre Aufmerksamkeit auf Überleben ausgerichtet ist, wenn dieser frühe Anteil, die kleine vierjährige getriggert wird. Und dann ist es nachvollziehbar, dass ich mich, wenn dieser Anteil, sich in Führung begibt und mein Leben steuert, nicht mehr frage: Worauf habe ich Lust? Was brauche ich? Was tut mir gerade gut?

Solche Fragen stellt man sich nicht, wenn es um die Existenz geht. Dann kann man sich so einen „Luxus“ nicht erlauben. Beim Überleben ist man mit dem Außen beschäftigt und die Fragen die dann eher auftauchen sind: Wo ist der Ast, an dem ich mich festhalten kann und der mich vor dem Ertrinken rettet? Wie kann ich mich vor dem Säbelzahntiger in Sicherheit bringen? Sicherheit hat sehr viel mit Orientierung im Außen zu tun. Wo ist die Bedrohung? Wie kann ich mich in Sicherheit bringen? Was hilft mir um weiter zu machen?

Aber: wenn ich aufhöre mich zu fragen was in meinem Inneren ist, wer ich bin und was ich brauche, weil ich im Überlebensmodus bin und meine ganze Aufmerksamkeit, mein Handeln und Denken von Überlebenssicherung geprägt ist, dann höre ich auf Lebendig zu sein! Wer nur funktioniert ist nicht lebendig!

Das ist die Ironie des ganzen. Ich tue alles um zu überleben und zahle den Preis dafür, dass ich nicht lebendig bin. Damit schaffe ich mir die Grundlage für ein lebloses Leben. Das schlägt sich auch in der Atmung und im Muskeltonus wieder. Die Anspannung im Gewebe steigt enorm und die Atmung wird flacher, wir behindern unbewusst den Energiefluss in unserem Körper.  Wie schon Theodor Fontane wusste: “je freier man atmet, desto mehr lebt man.“ Solange wir nur überleben, erlauben wir uns nicht lebendig zu sein. Und wo bleibe ich dann? Ganz ganz weit hinten.  An letzter Stelle. Soweit hinten, dass ich vor lauter „Sicherheitsvorkehrungen“ manchmal nie dort ankomme. Bei mir.

Das klingt und ist ziemlich traurig und wie gut, dass es Wege gibt sich dessen bewusst zu werden und nach neuen Möglichkeiten zu suchen.

Ich habe die Pausentaste gedrückt um aus dem Strudel des Funktionierens auszubrechen. Ich habe angehalten. Mir Zeit für mich eingeräumt (obwohl die Kleine sagt ich kann mir das nicht leisten). Ich habe mir Zeit für die kleine vierjährige genommen. Und sie gefragt: Worauf hast du Lust? Ich habe mich gefragt, was lässt mich und uns lebendig fühlen?

Eine Antwort darauf war: Ich hab mir ein Longboard gekauft und lerne nun es zu fahren. Das führt zwar immer wieder zu für mich vermeintlich peinlichen und für andere reichlich amüsante Situationen, z.B.  wenn ich auf der Wahrschauerbrücke an einer Rille hängen bleibe und dann unfreiwillig absteige während das Board den Berg herunter rollt und ich hinterher rennen muss um es wieder einzufangen. Aber das gehört dazu! Und es ändert etwas in meinem System. Selbst wenn ich mit dem Board nur ins Café fahre, um mich dort dann an den Rechner zu setzen, so haben wir beide etwas davon. Die vierjährige darf Skateboard fahren und Spass haben und die Erwachsene schreibt dann Newsletter. Oder Artikel. Solche wie diesen hier. Und weil ich als Große gelernt habe nach uns beiden zu schauen, wird es wieder etwas ruhiger und friedlicher in mir. Und ein Stück lebendiger. Und die Freude und Lust am Leben schleicht sich langsam wieder durch die Hintertür herein und gesellt sich zu der tiefen Trauer, die auch da ist. So bekommt alles seinen Platz.

Manchmal liegt der Weg raus aus dem funktionieren zwischen Schwarz und Weiß. Zwischen Null und Eins. An Orten wo wir die Antwort nicht suchen oder erwarten würden. Aber unser Leben und unsere Welt sind nicht Dual. Es gibt überall Pole und zwischen den Polen tun sich ganz eigene Welten auf. So gibt es den Nordpol und den Sülpol und der Rest der Welt liegt dazwischen. Wenn wir nur bei den Polen stehen bleiben, erschließt sich uns die Welt dazwischen nicht. Es sind oft schillernd bunte und vielfältige Welten, die zu erforschen es sich lohnt. Lass dich überraschen von dem was dir dort begegnet, wenn du dich auf Entdeckungsreise begibst jenseits von Überleben und funktionieren… Wen entdeckst du, wenn du dir in der Welt zwischen den Polen selbst begegnest? Worauf hast du dann Lust, wenn du nach dir schaust? Und dich auf die Suche machst?

Lass mich gerne wissen was dir begegnet. Schreib mir, wenn dir danach ist. Ich bin neugierig von dir zu hören! Und falls deine Suche auch beim Kauf eines Skateboards endet (oder beginnt), dann lass uns gerne eine Runde zusammen fahren!

Namasté

Steph