Ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder gespürt, dass ich einen stabileren (Boots-)Mast benötige, um in den immer stärker werdenden Stürmen weitersegeln zu können, ohne zu kentern.

Ich hatte so eine Ahnung, dass ich etwas davon im Buddhismus finden könnte, woraufhin mir die Bücher von Ajahn Brahm in die Hände fielen. Mir gefielen seine Geschichten und ich konnte auch das eine oder andere davon brauchen. Allein mich mit den buddhistischen Geschichten zu beschäftigen, hat mir geholfen, weil ich mich darüber mit den entsprechenden Feldern verbinden konnte. Aber dann wurden die Stürme immer heftiger und mir flog so einiges um die Ohren. Gleichzeitig fühlte ich mich zu nichts hingezogen, was mir eine solidere Basis hätte geben können.

Aber wie das so ist, wenn man innerlich eine Klarheit und einen Wunsch trägt, zeigt sich irgendwann etwas. Als ich mit meinem Partner diesen Sommer in der Schweiz zu Besuch bei Freunden war, erzählte mir eine SE Kollegin, dass sie bei einem tibetischen Meditationsmeister Zuflucht gesucht hatte und sich nun für ein Studium bei ihm bewirbt. Am selben Tag erfuhren wir, dass die Freunde, bei denen wir übernachtet haben, genau denselben Meditationsmeister kannten und einer von ihnen diesen sogar auf seiner Tournee als Organisator begleitete. Soviel „Zu-Fall“, macht mich hellhörig, also habe ich mich gleich bei dem Retreat in Berlin angemeldet, um Yongey Mingyur Rinpoche einmal persönlich kennenzulernen.

Ich weiß nicht, wieviel von seinen Lehren wirklich bei mir hängen geblieben, oder zu mir durchgedrungen ist. Ich habe aber sehr wohl bemerkt, dass ich danach auf eine subtile Art und Weise anders da war. Auch beim Meditieren. Das war diesen Sommer.

Nun haben ja einige von Euch schon mitbekommen, dass ich mit meiner Tochter in der letzten Zeit wieder einige Male im Krankenhaus war. Es gab die ganzen letzten Monate schon Hinweise auf Komplikationen, aber sie konnten nicht herausfinden, was genau es war, obwohl meine Tochter mehrfach auf den Kopf gestellt wurde. Bis vor kurzem. Nun ist klar, dass leider nicht alles planmäßig läuft und ein erneuter Eingriff (wenn auch hoffentlich ein kleiner) notwendig ist.

Bisher war es mir immer möglich dahinter zu schauen. Hinter die OP, hinter all die Invasiven Eingriffe und Untersuchungen. Irgendwie konnte ich immer eine Zeit danach sehen. Und all dem, was war einen Platz geben. Das hat sich mit der letzten Botschaft geändert. In dem Gespräch mit dem Arzt, der uns die neuesten Befunde vorgestellt und auch darüber aufgeklärt hat, was als nächstes Ansteht, hätte ich am liebsten losgeheult. Mich hat eine tiefe Verzweiflung gepackt und ein Gefühl der Ohnmacht, ein Gefühl des „hört das denn nie auf?“ Es war das allererste Mal, dass ich so etwas in Bezug auf meine Tochter gespürt habe. Keine Zuversicht mehr, kein dahinter schauen können. Nur noch Angst und Verzweiflung. Das ist neu. Wo ist mein stabiler Mast geblieben?

Mir wird so langsam bewusst, dass es damit zu tun hat, dass wir uns auf diese riesige und riskante OP im Mai eingelassen haben und mit ihr die Hoffnung hatten, dass es danach endlich gut wird.

Diese OP hat Spuren hinterlassen. In mir und in meiner Tochter. Die Tragweite des Eingriffes, die Herausforderung, das Bangen. 14 Stunden lang auf mein Kind zu warten, dass es endlich aus dem OP kommt und mir die Ärzte endlich sagen, dass alles ok ist, während ich immer mehr in Angst abrutsche, mein Kind lebendig nicht mehr wiederzusehen. Die Erfahrung, dass während unserer Zeit auf der Intensivstation ein Kind verstorben ist. Das Bild des Bestattungsdienstes, der vor der Türe gewartet hat, kam mir diese Woche plötzlich wieder in den Sinn. Die vielen Nächte auf dem Stillstuhl, um bei ihr sein zu können auf der Intensivstation. Meine Hilflose Tochter, die sich eine Woche lang kaum bewegen konnte und starke Schmerzen durchgestanden hat. Ihr riesige Wut auf mich:“ Wegen dir habe ich die Schmerzen, weil du die OP zugelassen hast!“ Und diese Wut auf mich flammt nun erneut auf: “Du hast gesagt, es ist die letzte OP!“ Ja, hatte ich. Ich habe es von ganzem Herzen gehofft und daran geglaubt. Ich verstehe sie, ich verstehe, dass sie ihre Wut irgendwohin richten muss und kann sie nehmen. Es ist okay. Meine eigene Angst vor einem erneuten Eingriff, nach der Erfahrung im Mai, ist es, was mich fertig macht. Ich brauche etwas, das größer ist als ich, was mich trägt durch die nächsten zwei Wochen hindurch.

Und ich danke dem Universum dafür, dass ausgerechnet jetzt Holger Yeshe, ein Schüler von Yongey Mingyur Rinpoche und selbst Meditationslehrer, genau jetzt für zwei Retreats nach Berlin kommt. Das erste liegt bereits hinter mir, das andere folgt am kommenden Wochenende.

Ich hatte die Möglichkeit dort in einem gehaltenen und geschützten Rahmen meine Angst zu erkunden. Ich konnte dem ins Auge blicken, vor dem ich panische Angst habe. Ich weiß, dass ich mich total aufreibe und es mich wahnsinnig viel Kraft kostet Angst zu haben. Angst davor, dass Alani wieder aus dem Krankenhaus abhaut, wie letztes Mal, weil sie selbst zu sehr Angst hat. Meine eigene Angst vor der OP... Das nicht wollen von etwas, raubt uns unseren inneren Frieden. Das spüre ich sehr sehr deutlich. Aber wie soll ich das aufgeben, wenn das, was dahinter ist für mich nicht aushaltbar ist? Als es um Emotionen ging hieß es natürlich, dass wir etwas kleines nehmen sollten, um damit zu meditieren. Aber ich hatte nichts kleines. Da ist nur diese überwältigende Todesangst. Die eignet sich nicht dazu. Also habe ich geschaut, was ist denn dahinter? Und ich konnte sehen, dass es die Angst ist, meine Tochter zu verlieren. Ich wusste, ich kann nur dann den Kampf dagegen aufgeben, wenn ich es schaffe in mir den Raum so groß werden zu lassen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das passieren könnte, ihren Platz bekommt. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet, aber ich konnte es tatsächlich für eine Minute halten, dem Raum zu geben. Alle Geschichten draußen zu halten und nur der Möglichkeit den Platz einzuräumen, dass sie stirbt. Und damit wurde es ruhiger, aber auch ganz schön eng in meiner Brust. Dennoch. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich es halten kann. Ich habe die Kraft meiner Seele und meines Seins gespürt, in dem Moment, wo alles da sein durfte, auch der Tod. Und gleichzeitig war ich mir sehr bewusst, dass ich das nur konnte, weil ich in Gemeinschaft war. Gehalten in diesem Raum mit Gleichgesinnten und zwei Lehrern. Alleine würde das (noch) nicht funktionieren. Meine langjährige SE Begleitung hatte mir damals vor sehr vielen Jahren gesagt: "Wenn der Schmerz zu groß ist, dann musst du größer werden als der Schmerz". Ich weiß heute mehr denn je, wie sie das damals gemeint hat, und dass es genauso ist.

Dieses erste Meditationswochenende hat mir unglaublich gut getan, es hat mir eine Auszeit gegeben von meinen „Problemen“ und Herausforderungen.

Ich meditiere nun täglich, was mal mehr, mal weniger gut funktioniert. Und manchmal bin ich total erstaunt darüber, wie gut es trotz allem plötzlich geht und ich innerlich ruhig werde. Und manchmal eben auch nicht. Es war sehr aufbauend, von Holger nochmal zu hören, dass die Meditationen, bei denen wir hinterher das Gefühl haben „versagt“ zu haben, die wichtigsten sind. Weil mitten im Sturm, jeder kleinste Moment von Gewahrsein soviel mehr wiegt, als eine halbe Stunde im Frieden zu sitzen, wenn alles ganz einfach ist.

Und ich meditiere viel mit dem Bild und dem Gefühl des Mastes. Mal ist es ein Fahnenmast, an dessen Fahne der Wind heftig zerrt und rüttelt. Und mal ist es der Mast eines Bootes, das sich tapfer durch die Fluten schlägt.

Und mal bin ich mit dem Gefühl, dass mein Mast nicht stark genug ist, um einen weiteren Tod eines geliebten Menschen zu ertragen, dass es sich anfühlt, als würde es mich das in tausend kleine Stücke reißen, die so im Sturm verstreut werden, dass ich nie wieder zu einem Ganzen zurückfinden kann. Und auf der anderen Seite habe ich viele Verluste in meinem Leben schon durchgestanden. Es hat lange gedauert, bis ich den selbstgewählten Tod meines engsten Freundes im Mai 2019 überwunden habe. Sehr lange, und ich weiß nicht, ob die Trauer um seinen Verlust jemals gänzlich versiegen wird. Und dennoch: ICH lebe noch. 

In dieser einen Minute bei Meditieren habe ich die Stärke meiner Seele gespürt und gesehen, das, was wahrscheinlich den Mast ausmacht. Und dieser Moment hat mir gezeigt, dass egal wie alles ausgehen wird, ich habe die Stärke immer wieder aufs Neue aufzustehen und weiter zu gehen. So wie bisher auch. Ich danke all den sichtbaren wie unsichtbaren Wesenheiten, die mich in dieser Zeit unterstützen und mir zur Seite stehen. Ich spüre euch.